Genusswandern im Appenzellerland – Auf dem Hohen Kasten

Genusswandern im Appenzellerland – Auf dem Hohen Kasten

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Es gibt Tage, die sind ganz besonders. Da stimmt einfach alles. Heute ist so ein Tag! Der Herbst lockt mit Sonnenschein, strahlend blauem Himmel und warmen Temperaturen. Es ist noch früher Morgen. Ich stehe am Rand einer Straße und blicke in ein romantisches Tal. Der Morgendunst hat sich noch nicht verzogen und bildet einen zarten Schleier, der die Berge sanft verdeckt. Das wirkt sehr stimmungsvoll.

Traumhafter Spätsommertag

Wir befinden uns im schönen Appenzellerland. Ich wundere mich immer wieder – nirgendwo sonst sind die Wiesen so saftig, leuchtend grün wie hier. Die Szene wirkt ideal gestellt: die Häuschen sind maßvoll über die Hügellandschaft verstreut. Eine Gruppe Kühe weidet entspannt auf der grünen Wiese vor mir. Hier wird nicht gehetzt.

Das Appenzellerland befindet sich im Nordosten der Schweiz am Fuße des Alpsteinmassivs in unmittelbarer Nähe von Bodensee und Österreich. Ich mag dieses Land, und ich stelle mir vor, dass Gott einen besonders guten Tag hatte, als er dieses Land nach einer besonderen Komposition schuf. Obendrein sind die Appenzeller gastfreundlich. Überall dort, wo eine Fahne weht, gibt’s etwas zu trinken und leckeres zu essen.

Ich bin auf dem Weg nach Brülisau, oder genauer gesagt, auf dem Weg zum Hohen Kasten. Die schmale Straße schlängelt sich durch hügeliges Land. Brülisau ist ein kleines Dorf, wunderschön gelegen und daher ein idealer Ausgangspunkt für Wanderungen.

Brülisau im Appenzellerland

In Brülisau ist Endstation für alle Autos. Auf einer weiten Wiese in der Nähe der Dorfkirche kann ich mein Fahrzeug parken, oder, wie wir hier sagen: «parkieren». Jetzt geht es nur noch zu Fuss weiter oder mit der Seilbahn. Für mich kommt heute nur eins in Frage: die Seilbahn!

Seilbahn zum Hohen Kasten
Seilbahn zum Hohen Kasten

Wie ein Bus an einem großen Metallhaken fährt die Gondel herab und landet an der Talstation, wo die Fahrgäste bereits warten. In 8 Minuten überwindet die Gondel etwa 950 Höhenmeter und eine Strecke von 2.5 Kilometern, bis sie die Gipfelstation auf dem Hohen Kasten erreicht.

Panoramarestaurant auf dem Hohen Kasten
Panoramarestaurant auf dem Hohen Kasten

Viele Gäste fahren auf den Hohen Kasten, um die Aussicht und die Gastronomie im Panoramarestaurant zu genießen. Der Rundblick auf fast 1800 Metern Höhe ist der Hammer!

Gipfel des Kamor mit Bodensee
Gipfel des Kamor mit Bodensee

Im Norden erkenne ich Wanderer, die über einen Grat den Nachbargipfel, den Karmor, erklimmen. Dahinter liegt bereits der Bodensee. Eine völlig andere Kulisse offenbart sich im Süden: das Alpsteinmassiv!

Alpsteinmassiv

Das Alpsteinmassiv ist wie ein Kessel: Berge mit zum Teil auffällig bizarren Strukturen umringen ein schmales Tal. Offensichtlich war diese Region vor Millionen von Jahren geologisch hoch aktiv.

Bizarre Gipfel Öhrli und Altenalptürm

Das Alpsteinmassiv gehört zwar zu noch den Voralpen, doch es wirkt imposant. Das liegt daran, dass die Berge über 1000 Meter aus dem umliegenden Hügelland herausragen, wie eine gewaltige Festung. Der höchste Gipfel ist mit 2502 Metern der Säntis. Er ist nicht nur aufgrund seiner Höhe, sondern auch durch eine über 100 Meter hohe Antenne leicht auszumachen.

Vom Panoramarestaurant führt ein Wanderweg über den östlichen Höhenzug des Alpsteingebirges. Von meinem Aussichtspunkt ist zu erkennen, wie dieser Weg etwas unterhalb der Station über den Grat eines kaum bewaldeten Bergrückens führt. Eine spannende Tour! Ich mache mich auf den Weg.

Nach einigen Kilometern treffe ich an einer Lichtung auf eine adrette Wandersfrau. Sie ist wie ein Profi gekleidet – sicherlich nicht zum ersten Mal in den Bergen. Allein in der schönen Einsamkeit kommen wir schnell ins Gespräch. Sie heißt Sieglinde und wohnt in Überlingen. Ich bin fasziniert: man sprich ja sonst nicht übers Alter, aber es ist schon auffällig, wie fit und fröhlich Sieglinde trotz ihres Alters daherkommt. Sie erklärt mir, dass sie früher öfters am Hohen Kasten wanderte, und jetzt wieder einmal nach langer Pause. Wir setzen uns auf die Holzbank am Wegesrand und bestaunen gemeinsam die Landschaft.

Trotz grüner Wiesen ist die enorme Trockenheit des Sommers sichtbar. Der Sämtisersee im Tal führt nur sehr wenig Wasser. Sieglinde berichtet, dass auch die Bodenseeregion vom trockenen Wetter betroffen ist. Im August war der Pegelstand des Bodensee um einen Meter gesunken. Es wird dauern, bis sich die Natur wieder erholt.

Sieglinde überlegt, ob sie den Wanderweg ins Tal einschlagen soll, obwohl sie die Rücktour mit der Gondel schon bezahlt hat. Ich rate ihr ab, denn die Aussicht von hier oben ist heute einmalig. Wenn sie nicht so weit gehen möchte, kann sie rund ums Drehrestaurant wandern und noch den Nachbargipfel besuchen. Mich zieht es jedoch weiter in Richtung Süden, entlang des Bergkamms. Wir verabschieden uns.

Der steinige Weg führt zunächst hinab, an Felsen vorbei, in ein Wäldchen. Dann geht es wieder hinauf. Die Blätter der Laubbäume leuchten in warmen Herbstfarben und bilden einen willkommenen Kontrast zu den eintönig dunklen Tannen.

Wanderweg in Richtung Süden

Das Alpsteinmassiv besteht aus drei Bergketten, die sich von Nordosten nach Südwesten erstrecken. Ich befinde mich auf dem östlichen Grad. Das Gebirge besteht, anders als die Zentralalpen, aus Kalkstein und ist durchsetzt mit Brüchen, Höhlen und unterirdischen Wasserläufen.

Verwerfungen am Hohen Kasten
Verwerfungen am Hohen Kasten

Ein Hinweisschild erläutert die Geologie des Hohen Kasten. Demnach wurden Gesteinsschichten während der Bildung des Gebirges oftmals zerbrochen und gegeneinander versetzt. Solche Brüche heißen Verwerfungen. Mehrere Phasen mit Verwerfungen formten den Hohen Kasten, wie wir ihn heute sehen.

Gemäß den Erläuterungen wurden die Gesteinsschichten am Hohen Kasten zunächst durch Faltung schräg gestellt. Dann folgte eine Reihe von Verwerfungen, die die ursprüngliche Schichtfolge zerhackten. Durch Überschiebungen und Abschiebungen formte sich schrittweise eine Struktur, die an Treppenstufen erinnert. Das Ganze geschah vor schätzungsweise 30 bis 40 Millionen Jahren. Es war die Zeit, als sich die afrikanische Kontinentalplatte über die europäische schob und dadurch Gesteinsschichten zu Falten zusammenpresste. Hier im Alpsteinmassiv sind die Folgen dieses gewaltigen geologischen Vorgangs besonders gut sichtbar.

Es ist ein kleines Wunder. Inmitten dieser bizarren Bergwelt erscheint eine kleine Oase. Der Gasthof Staubern ist geöffnet und lädt den Wanderer zu einer kleinen Verschnaufpause bei Kaffee und Kuchen ein. Direkt vor dem Gasthaus bäumt sich wie ein Zuckerhut die Staubernkanzel auf. Links daneben geht der Blick weit ins Rheintal Richtung Chur. Die Aussicht ist atemberaubend.

Blick ins Rheintal
Blick ins Rheintal

Dort, wo der Rhein eine Linkskehre macht, befindet sich das kleine Fürstentum Liechtenstein mit der Hauptstadt Vaduz. Dem gegenüber auf der anderen Flussseite befindet sich die Stadt Buchs. Die höchsten Berge im Hintergrund sind die 3000er Piz Arblatsch und Piz Platta im Kanton Graubünden. Und was auch auffällt: dem Rhein fehlt das Wasser.

Auf dem Wanderweg

Vom Gasthaus Staubern könnte man mit der Seilbahn ins Tal gelangen. Doch die Neugier auf das Unbekannte zieht mich weiter und tiefer in das Massiv hinein. Der Wanderweg führt rechterseits um die Staubernkanzel herum, weiter in Richtung Südwest. Stellenweise sind am Weg Seile befestigt, an denen man sich besser festhält. Denn daneben geht es steil bergab.

Gräser am Wegesrand

Gräser am Wegesrand leuchten golden im spätherbstlichen Sonnenlicht. Die Natur gönnt sich heute alles. Und für mich sind es Streicheleinheiten für die Seele.

Es geht immer weiter. Hin und wieder treffe ich auf Wanderer. Sie wirken entspannt und fasziniert von der ausgefallenen Schönheit der Landschaft. Ich erreiche wieder einen Grat mit freier Sicht in alle Richtungen. Vor mir taucht ein mehrwürdig geformtes Felsmassiv mit einer gewaltigen Felswand auf. Davor scheinbar ein Abgrund – es ist die Saxer Lücke.

Die Saxer Lücke ist ein Passübergang auf etwa 1650 Metern, der auf der linken Seite ins Rheintal in die Gemeinde Sax führt. Die Felsen dahinter sind die Chrüzberg – die Kreuzberge. Beim Blick ins Rheintal fällt mir auf, dass der Dunst in den Tälern wieder zunimmt. Es wirkt stimmungsvoll.

Irgendwann möchte ich ein Foto von mir inmitten dieser grandiosen Landschaft. Doch Vorsicht! Hinter dem Felsvorsprung geht es steil nach unten. Beim Blick ins Tal offenbart sich mir erneut eine fast unwirkliche Landschaft. Zwischen steil abfallenden Felswänden und Geröllzungen liegt der Fälensee.

Fälensee
Fälensee

Der Fälensee ist wie der Sämtisersee ein Bergsee. Geologischen Untersuchungen zufolge liegt er genau über einer Faltenmulde. Und erstaunlicherweise hat er einen unterirdischen Abfluss, der das Wasser ins Rheintal leitet. Am Ende des Fälensees liegt etwas einsam eine kleine Alm. Die Häuschen sind von hier oben zu erkennen. Dort gibt es exzellenten Käse und Wein. Man kann dort auch übernachten.

Der steinige Weg führt stetig hinab zur Saxer Lücke. Mich fasziniert die imposante Felswand vor mir. Sie ragt etwa 300 Meter in die Höhe. Ihre Gesteinsschichten wurden vor Millionen Jahren fast senkrecht gedrückt. Unvorstellbare Kräfte hatten das bewirkt. Heute ist diese Wand sicherlich ein Paradies für Kletterer.

Jenseits der Saxer Lücke führt der Wanderweg wieder hinauf. Die Kreuzberge offenbaren sich nun als Bergkamm. Je tiefer der Wanderer in diese Bergwelt eindringt und je später es ist, umso intensiver wirkt die Atmosphäre. Das ist auch der Grund, warum man gar nicht umkehren, sondern immer weiter wandern möchte. Ich erreiche eine Wiese. Im schräg einfallenden Sonnenlicht erscheinen Strukturen durch Licht und Schatten überdeutlich. Der Blick auf die Kreuzberge ist fesselnd. Diese Landschaft ist wie ein Motiv aus einem Märchen oder Fantasyfilm.

Genießen

Beim Genusswandern ist es wichtig, das «Genießen» nicht zu vergessen. An einem besonderen Ort sollte der Wanderer nicht einfach vorbeiziehen, sondern eine Pause einlegen und Landschaft und Natur auf sich wirken lassen. Ich suche mich einen kleinen Hügel, lege den Rucksack ab und mache es mir gemütlich. Ich lasse meine Blicke schweifen und die Seele baumeln. Das ist Freiheit – es gibt nichts Schöneres!

Mondaufgang

Die Zeit vergeht. Der Mond taucht zwischen zwei Bergkuppen auf als wollte er kurz «Hallo» sagen und mich daran erinnern, dass die Nacht herannaht. Ich erkenne das Mare Crisium in der oberen Hälfte der Mondsichel – das Meer der Gefahren. Ok, ich sollte mich auf den Rückweg machen! Ich packe mein Zeug und ziehe los. An der Saxer Lücke angekommen, halte ich mich links und wandere in Richtung Falensee und Bollenwees.

Da die Sonne im Tal verschwindet, wird es schnell kühler. Aus dem zarten Dunstschleier ragt stolz der Hohe Kasten empor, im Spotlight der Abendsonne. Dort oben erleben die Besucher jetzt einen wundervollen Sonnenuntergang. Und er macht er seinem Namen alle Ehre: denn von hier im Tal sieht er tatsächlich aus wie ein hoher Kasten.

Ich lege einen schnelleren Gang ein. Es sind noch einige Kilometer zu gehen, und ich bin zeitlich schon etwas knapp. Im Herbst wird es in den Bergen schneller dunkel als man meint. Über mir höre ich Motorengeräusche, die lauter werden. Ich schau nach oben.

Ein Helikopter der Rettungsflugwacht Rega fliegt entlang des Alpstein Bergkamms. Vermutlich ist er auf einem Kontrollflug. Der Helikopter ist ein Da Vinci und kann einen Patienten transportieren. Wer jetzt noch im Gelände unterwegs ist und dabei in Not gerät, benötigt die Hilfe der Rega dringend. Im Januar 2017 rettete die Rega in einem schwierigen Nachteinsatz eine junge Frau. Sie war mit zwei Begleiterinnen auf einer nächtlichen Wanderung durch eine Schlucht. Dabei war sie gestürzt und hatte sich schwer verletzt. Die Rega musste die Frau an einer Rettungswinde ausfliegen, da eine Landung unmöglich war.

Zum Glück ist nun auch für mich Rettung in Sicht. Eine Wanderung durch die Bergwelt macht hungrig. Kein Wunder, dass mein Magen schon seit geraumer Zeit knurrt. Das Berggasthaus Plattenbödeli lädt ein zu einem feinen Abendessen.

Im Restaurant ist es angenehm warm und hell erleuchtet. Die meisten Gäste haben sich offenbar für die Nacht eingebucht. Doch ich muss heute noch weiter nach Brülisau. Ich bestelle Bärlauchrösti und ein Appenzeller Quöllfrisch. Das Bier kommt sofort. Ich nehme einen großen Schluck – herrlich! Dann kommen die Rösti frisch und knusprig. «En Guete»!

Ich blicke immer wieder kritisch durch das Fenster. Die Dunkelheit bricht schnell herein. Also, beeile ich mich mit dem Essen. Eigentlich ist es schade, in diesem schönen Moment zu gehen, denke ich mir. Beim nächsten Mal könnte ich hier auch übernachten. Ich greife nach meinem Rucksack, ziehe mir die Jacke über und gehe an die Kasse, um zu zahlen. Noch ein freundliches Wort zum Dank und «Aufwiederluage». Dann ziehe ich weiter. Bis nach Brülisau sind es immerhin noch gut zwei Kilometer durch den Wald. Und es geht recht steil bergab.

Bevor ich in den Wald verschwinde, schaue ich noch ein letztes Mal zurück. Wie wunderbar: der Mond scheint über dem bizarren Scherenschnitt des Alpsteinmassivs.

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