Das Treffpunkt-Interview mit Ritsuko Weber-Mizutani, Software-Projektleiterin

Das Treffpunkt-Interview mit Ritsuko Weber-Mizutani, Software-Projektleiterin

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn
WhatsApp
Email

Als ich Ritsuko Weber-Mizutani zum ersten Mal im Frühjahr 2014 begegnete, war sie die Leiterin eines großen Projekts mit über 100 Mitarbeitern bei einem Schweizerischen Finanzdienstleister. Geschätzt 55 Jahre alt, trug sie ein dunkles Kostüm und schulterlange schwarze Haare. Sie wirkte ruhig, freundlich und etwas geheimnisvoll – irgendwie schwer zu durchschauen. Ich hatte noch nie zuvor mit einer Japanerin zusammengearbeitet und fand das sehr reizvoll. Im Laufe der Zeit lernten wir uns näher kennen. Ritsuko kommt aus Sapporo, der Hauptstadt der nordjapanischen Insel Hokkaido. Sie ist mit einem Schweizer verheiratet. Beide haben einen Sohn. Irgendwann verriet sie mir, dass sie sich für Schauspiel, Tennis und Golf interessierte. Es beeindruckte sie, wenn jemand seine Arbeit als Berufung auffasste und mit Leidenschaft wirkte. Wer hingegen unmotiviert oder eigennützig agierte, erhielt ihren Respekt auf keinen Fall.

Treffen vor der Weltreise (Anastasia, Ritsuko, Mirko, Stephan)

Ritsuko hielt ein heterogenes Team mit einigen starken Individualisten zusammen und jonglierte zwischen politischen Führungslagern, die sich einfach nicht mochten. Allein daran wären viele Projektleiter früh gescheitert. Doch Ritsuko konnte in dieser Situation bestehen, was mich immer wieder erstaunte. Sie führte auf eine angenehme Weise: sie berücksichtigte jeden, war nicht verletzend, setzte auf die Verantwortung jedes einzelnen und forderte diese auch ein. Darum war sie bei ihren Mitarbeitern sehr geschätzt. Niemand verließ das Projekt, bis es in 2016 zu einer unerwarteten Wende kam. Die Politik schlug zu: neuer Projektleiter, andere Ausrichtung, autoritärer Stil. Die Mitarbeiter liefen davon, und so dauerte es keine 3 Monate, bis das Projekt am Boden lag.

Im Zuge der Veränderungen entschloss sich Ritsuko, frühzeitig in Pension zu gehen. Erst war ich überrascht und auch etwas verständnislos. Kompetente Menschen wie sie werden doch benötigt, argumentierte ich. Doch sie vertrat einen anderen Standpunkt. Sie wollte ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen und etwas für sich tun, solange es noch möglich war. Sie wollte mit ihrem Mann auf eine Weltreise zu gehen und dabei länger in Australien und Japan verweilen. Ihre Mutter war betagt. Gelegenheiten, sich zu sehen, sollten genutzt werden. Ritsuko sagte zu mir, „Jetzt brauche ich neue Vorbilder, von denen ich lernen kann, wie ich in diese neue Lebensphase meistern kann.“ Darüber möchte ich mit ihr reden. Wir sind in der Brasserie Federal im Zürcher Hauptbahnhof verabredet, eine Stunde vor der Abschiedsfeier mit dem alten Projektteam. Das Federal ist ein lebendiger Ort, wo sich ein buntes Gemisch von Menschen bei gutem Essen fröhlich austauscht. Hier haben wir uns oft getroffen, um beim Weizenbier über Gott und die Welt zu sprechen. Als Ritsuko im formalen Dress erscheint, ist der Empfang wie immer herzlich: Große Umarmung! Wir suchen uns einen freien Tisch und signalisieren dem Wirt zwei Weizenbier. Der weiß schon Bescheid, und bringt sie sofort. Wir stoßen an. „Zum Wohl, und alles Gute für Deine Zukunft!“, sage ich, wische mir den Schaum von den Lippen und beginne mit dem Interview.

Rits‘ko, Du hast in großen Unternehmen gelernt, Dich entwickelt und später schwierige Projekte geleitet. Du könntest ja selbst ein Vorbild für andere sein.

Viele denken, ich sei sehr fleißig. Aber eigentlich bin ich eher faul. Ich möchte mit wenig Aufwand viel erreichen – so wie Mirko: er bestellt ein Bier, und es kommen zwei. (wir lachen)

Mirko war Mitarbeiter in Deinem Projektteam. Der hat den Bogen offenbar raus.

Ja, aber das Leben ist in der Regel nicht so einfach. Du bekommst nichts geschenkt. Vorbilder können Dir auf Deinem Lebensweg helfen, Dich besser zurechtzufinden.

Wer waren Deine Vorbilder?

In meiner Kindheit waren das meine Eltern. Ihre Selbstlosigkeit und bedingungslose Liebe habe ich immer gespürt. Sie haben nie etwas von mir verlangt. Später im beruflichen Leben hatte ich dann fachliche Vorbilder. Sie waren für mich Lehrer – sehr gute Lehrer.

Gute Vorbilder bringen Menschen zum Blühen (Frühling in Sapporo)

Was hat Dich bei Deinen Lehrern beeindruckt?

Ich merkte, sie hatten einen großen Wissens­vorsprung. Das weckte in mir die Neugier. Ich wollte alles wissen, was sie schon wussten. Bei ABB hatte ich einen fachlichen Vorgesetzten mit hoher sozialer Kompetenz. Von seinem Umgang mit Menschen in den Fachabteilungen konnte ich mir viel abgucken. Er war sehr neugierig und zugleich strukturiert. Er zeigte mir Dinge, die ich nicht kannte, weil ich sie noch nicht erfahren hatte. Das gab mir Sicherheit. Was richtig oder falsch war, entschied ich aber immer für mich selbst. So lernte ich, meine Probleme eigenständig zu lösen und kam gut voran.

Negative Vorbilder können positiv wandeln (Sakura Jima)

Ein guter Coach hat offenbar ein Gespür dafür, Deine Eigenständigkeit zu fördern und nur dann abzusichern, wenn es nötig erscheint. Hast Du auch mal schlechte Erfahrungen gemacht?

Ja, es gab auch negative Vorbilder. Das waren Menschen, anhand denen mir klar wurde, dass ich so wie sie nicht sein wollte. Diese Menschen haben mich ungewollt positiv gewandelt. Von daher haben auch schlechte Vorbilder einen Nutzen. Doch ich bin mir ganz sicher: junge Leute brauchen zuerst gute Vorbilder. Du musst erst von guten Vorbildern lernen, damit Du die schlechten erkennen kannst. Das ist ganz wichtig!

Warum sind junge Leute besonders gefährdet?

Es sind nicht nur junge Leute gefährdet, sondern alle Menschen, die in ihrer Lebenssituation verunsichert sind. Das ist aber gerade bei jungen Menschen oft der Fall, weil sie wenig Lebenserfahrung haben und ihre Grenzen nicht kennen.

Ich weiß, Du magst Jodie Foster. Sie war ja schon als Kind ein Hollywood Star. Das klingt aufregend. Doch ihr wurde dadurch vieles verwehrt, was andere Kinder den lieben langen Tag tun durften.

Ich bin froh, dass mir eine solche Kindheit erspart blieb. Jodie Foster hatte aber sicherlich gute Vorbilder und Lehrer. Sonst wäre sie heute nicht diese großartige Schauspielerin und Persönlichkeit.

Jodie Foster spielte Figuren, die eine besonders herausfordernde Klugheit auszeichnete. Ist sie für Dich ein Vorbild?

Ein Vorbild ist sie für mich nicht – ihr ganzes Leben erscheint mir zu „extrem“ und daher fremd. Aber sie ist für mich ein Idol. Was ich aber an ihr bewundere ist, dass sie sich zu ihrer sexuellen Zuneigung zu Frauen und zur Liebe zu ihrer Freundin Alexandra Hedison öffentlich bekannt hat, und sie schließlich geheiratet hat. Das erfordert Mut.

Was unterscheidet das Idol vom Vorbild?

Idole lieben wir einfach, weil sie uns inspirieren und zum Träumen bringen. Sie können auch mal etwas Negatives machen. Das nehmen wir ihnen nicht übel. Bei einem Vorbild geht das nicht. Vorbilder machen ja alles richtig. (sie lächelt mit einem Augenzwinkern)

Manga-Helden zeigen, wie es geht

Du bist in Japan aufgewachsen. Wer war dort Dein Idol?

In Japan gab es eine Zeit, da waren Tennis-Mangas ein richtiger Hype. Diese Geschichten lass ich auch sehr gerne. In den Geschichten ging es meistens darum, wie sich ein junger Protagonist im Sportwettkampf gegen alle Widrigkeiten durchsetzen musste, um schließlich zum Erfolg zu gelangen. Einige der Figuren waren für mich Idole. Ich fieberte mit ihnen mit und lernte dabei auch, wie sie mit schwierigen Situationen umgingen.

Du meinst, man kann auch von fiktiven Figuren etwas mitnehmen?

Auf jeden Fall! Ich habe viele Romane gelesen, japanische und deutsche. Durch Lesen kannst Du Erfahrungen machen, die Du selbst nie machen würdest – weil sie in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort oder unter anderen Umständen stattfinden, oder weil sie fiktiv sind. Du kannst auch die Gefühle anderer Charaktere erleben oder in deren Rolle schlüpfen. Das bedeutet, Du kannst sogar Erfahrungen aus Situationen sammeln, die Du niemals selbst erleben würdest oder erleben möchtest. In Japan bin ich nie mit Geschichten aus der Kriegszeit in Berührung gekommen. Heute interessieren mich solche Geschichten besonders, weil sie berühren und wir viel davon lernen können. Dennoch bin ich froh, dass ich diese Zeit nicht selbst erleben muss.

Vorbilder in Japan (Ushibuka Haiya Fest)
Vorbilder in Japan (Ushibuka Haiya Fest)

Welche Bedeutung haben Vorbilder in Japan?

In der japanischen Gesellschaft bedeutet die Vorbildfunktion sehr viel. Wenn ein Politiker einen kleinen Fehler macht – fertig! Wenn ein Lehrer einen Autounfall verursacht, dann ist es auch vorbei. Die Gesellschaft erwartet von ihnen ein vorbildliches Verhalten. Ich finde allerdings, das geht in Japan schon etwas zu weit.

Was denkst Du, wie wichtig sind Vorbilder für Menschen heute?

Vorbilder sind elementar wichtig. Jeder Mensch braucht Vorbilder so wie jedes Haus tragende Wände braucht. Gute Vorbilder sind Lehrer, die uns an ihren positiven Erfahrungen und Wissen teilhaben lassen, unsere Neugier wecken, aber uns selbst entscheiden lassen.

Selbst entscheiden erfordert ja, dass man aktiv die eigenen Talente entwickelt und nicht einfach Vorbilder kopiert oder sich von ihnen etwas auftragen lässt. Welche anderen Grenzen siehst Du dabei?

Ein Vorbild ist eine Einwegfunktion – Du darfst von einem Vorbild nie etwas verlangen. Ein Vorbild kann Dir keine Garantie geben, z.B. im Leben erfolgreich zu werden. Sobald Du etwas verlangst, geht es nicht um Vorbildfunktion, sondern um Business.

„Do“ – der „Weg“ – in Japan von hoher Bedeutung (Kap Kiritappu)

Wenn Dich jemand fragt: „Wie kann ich meinen Weg im Leben finden“, was würdest Du raten?

Die gute Nachricht ist: auf dem Lebensweg gibt es in allen Phasen immer Vorbilder. Du musst sie aber suchen und gut auswählen. Vorbilder können Dir wirklich helfen, Sicherheit schaffen und Dich weiterbringen. Akzeptiere Dich, wie Du bist, mit Deinen Schwächen. Akzeptiere, dass Du nicht wie andere Menschen sein kannst. Du kannst ihnen nacheifern, aber Du wirst immer Du selbst bleiben – was ja ein glücklicher Umstand ist. Du solltest Dir aber darüber bewusstwerden, sonst treibst Du in eine falsche Richtung.

Zudem solltest Du Deine Grenzen im Leben kennenlernen und diese akzeptieren, sonst kann das fatale Folgen haben. Wenn ein Bergführer mit einer Bergsteigergruppe in die Hochalpen geht und Sturm aufkommt, dann muss er wissen, wann Schluss ist. In den Bergen wird es bei schlechtem Wetter schnell gefährlich. Selbst wenn die Gruppe nur 200 Meter vor dem Ziel ist, wird ein guter Bergführer bei Gefahr den Rückzug antreten. Ein guter Bergführer ist ein Profi – er kennt und akzeptiert die Grenzen. Diese Fähigkeit scheint heutzutage bei Top-Führungskräften in Unternehmen oft zu fehlen. Darum bekommen sie Burn-out. Junge Leute lassen sich leicht von schlechten Vorbildern und falschen Vorstellungen verleiten. Es gibt keine unbegrenzten Möglichkeiten, sonst wären wir alle Präsident der USA – und selbst der hat Grenzen.

Neue Blüten auf anderen Wegen (Takinoue Sibazakura Garten)

Was wünschst Du Dir für die Zukunft?

Jetzt brauche ich selbst neue Vorbilder – nicht geschäftlich, sondern im Leben. Senioren werden heute zu wenig berücksichtigt. Wir brauchen mehr Vorbilder.

Ich wünsche Dir, dass Du auf wundervolle Menschen und Vorbilder triffst, die Dich neu aufblühen lassen, und von denen Du hier eines Tages berichten wirst. Alles Gute und viel Glück!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert